Kuchen

Zur Hochzeit meiner Freunde Sabrina und Jens, Dürnstein 2022

Ich bin verzweifelt. Auf der Hochzeit des Jahres eingeladen, nein nicht die auf Sylt, die war schon, sondern auf Dürnstein. Und nicht ganz Deutschland schaut zu, sondern ein Kreis auserwählter Lieben. Ich bin glücklich, dass ich dabei sein darf. Und ein wenig verzweifelt.

Niemand erwartet von mir irgendetwas. Was so viel bedeutet wie: Als langjährige Freundin werde ich da natürlich liefern. Und sitze am Rechner und überlege, was man sagt. Also Sabrina und Jens, kurz JeSa, JeSa klingt toll – So habe ich sie aber nie genannt. Ich war auch nicht dabei, als die beiden in Rom zusammenkamen, Historie kann ich nicht gut, fragen sie meinen Lebensgefährten hier neben mir. Zeitgeschichte geht. Kurz bevor JeSa in ihr eigenes Haus in den Wolbecker Tiergarten zogen (Jahrhundertereignis), haben wir im Südviertel um die Ecke gewohnt und zusammen Kaffee und ab und an auch die besten Tortenstücke der Stadt in der Konditorei Issel genossen.

Immerhin habe ich Literaturwissenschaften studiert. Dann muss ich doch charakterisieren können, und zwar ohne dass jemand danach nie wieder mit mir Kuchen essen möchte. Die Messlatte ist hoch.

Im Allgemeinen verschanzt man sich da am besten hinter etwas, was schon andere verfasst haben. Zitate? Langweilig. Gedichte? Wenn, dann aus JeSas Lieblingszeit. Barock. Schreiben kann ich. Ich schreibe einfach ein barockes Gedicht, um die beiden zu beeindrucken. Ich schreibe ein Sonett. Wenig Worte, viel Wirkung.

Was war noch mal ein Sonett? 

Ich google Sonett. Erster Treffer: Sonett Flüssigwaschmittel 9,48 Euro bei naturhaus.com. Das passt, barocker Name und ökologisch. Damit könnte ich beide charakterisieren, aber sie könnten das falsch verstehen. Und ich will ja noch mit ihnen Kuchen essen können nach dieser Veranstaltung hier.

Sonett, nächster Treffer: Vierzehn Zeilen, zwei vierzeilige und zwei dreizeilige Strophen. Dann was mit These und Antithese. Das kann doch nicht so schwer sein. Mich muss nur die Muse küssen.

Muse will nicht. Nicht mal einen Hauch auf die Wange.

Ich frage die Muse: Soll ich sie vergleichen, zum Beispiel mit einem Sommertag? Sie antwortet nicht.

Ich google „Sonett Andreas Gryphius“. Der fällt mir ein, aus dem Deutschunterricht. Zeigt durchaus Potential, wenn die frische lieb grünt und blum und baum erbleicht, so was in der Richtung gefällt den Naturverbundenen bestimmt. Geht aber komisch weiter: So bleibt ihr hoher geist doch rein in trüben schmertzen. Antithese gehört ins Barockgedicht, aber das mit den trüben Schmerzen muss man ihnen nicht schon auf der Hochzeit sagen.

Ich google „Sonett William Shakespeare“, Shakespeare haut alles raus. Immer.

Love is not love which alters when it alteration finds.

kurz gesagt: Liebe ist keine Liebe, wenn sie sich bei der nächsten Gelegenheit ändert.

Notiere Gedichtzeile: SaJe bleiben wie sie sind und lieben sich.

Yuhu! Erste beide Zeilen fertig. Wie viele habe ich noch?

Ich google „Sonett“ und „Sch…“.

Ich finde Gernhardts Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs.

Ich erinnere mich: Ich will nach dieser Hochzeit noch mit den beiden Kuchen essen können. Ich lese das nicht vor.

Ich dichte, ich dichte, ich dichte. Was ich schreibe, es ist schief, sonderbar, unregelmäßig, prunk, schwülstig, überladen, sowas von barock! Ich bin müde. Leg meinen Kopf auf den Schreibtisch. Augen zu.

Ich öffne die Augen und sehe Sabrina, elegant in einem schwarzen, mit Karthäusernelken bedruckten Cocktailkleid, Haare zum Pferdeschanz gebunden, lehnt sie am offenen Fenster eines Kiosks. Ich hab´ sowas von keinen Bock mehr, mir Verse zu überlegen. Aus dem Kiosk strömt warmes Licht und Duft von Vanille. Ich bekomme Kuchenhunger.

Stolz lächelt sie mich an, „wie findest Du den Kiosk? Habe ich gebaut“, sagt sie und, ohne meine Antwort abzuwarten, zeigt sie nach oben. „Da oben hat sich schon eine Eichhörnchenfamilie niedergelassen.“ Beeindruckt bin ich, aber mehr als die Tiere interessiert mich der Duft. Ich schaue hinein. Das Leuchten kommt von Regalen voller Gebäck, die sich bis in den Himmel winden! Hunderte Kuchen aus Biskuit, mit Stockwerken von Erdbeer-, Schokoladen- oder Limonencreme, verziert mit weißem Fondant, blonden Engelchen und goldenen Perlen aus Zucker! Alles selbstverständlich in Bio-Qualität!

Im Kiosk sitzt Jens. Ich schaue auf sein Namensschild: „Herr der Torten“. Für mich will er etwas Besonderes kredenzen. Sabrina schaut, dass die Luft rein ist. Jens holt aus dem Inneren seines Jacketts eine handgroße Kuchenschachtel hervor.

Wiener Fächertorte, aus Jamben von Apfel, Distichen von Lebkuchen, Thesen von Mohn und Antithesen von Nuss.

Sabrina legt ihre Hand auf meine Schulter und sagt, Gedichte wären eh nicht ihrs. Das hier wäre ihrs.

Münster, den 15.7.2022

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