Eine rätselhafte Migrantin

Jon war kurz davor, dem Bildschirm eine Kopfnuss zu geben, und zwar genau auf das „Zukunftscraft“-Logo, ein violettes Emoji, das ihn auszulachen schien. Er versuchte bereits seit zehn Minuten, auf dem Rechner das Redstone-Erz zur kreieren, das er brauchte, um einen interaktiven Hebel ans Laufen zu bringen. Das Wissen, mit dem Jon täglich hantierte, war zwar virtuell, aber im Einsatz auf dem Globus so wertvoll, dass er nur an den hochabgesicherten PCs im Unternehmensgebäude arbeiten durfte. Bei Zukunftscraft gab es nur wenige Menschen, die so viel Ahnung von der Materie hatten wie er. Die Arbeit in der Entwicklungsabteilung von Zukunftscraft war sein Leben.

Jon bewegte den Controller aus der Inventaransicht immer wieder zurück in das Biom, eine an die reale Welt angepasste Computerwelt, die er aus Heimatliebe wie das schöne Sauerland gestaltet hatte. Er schaffte es nicht, den Algorithmus so zu justieren, dass er das Erz herstellte. Das sah ihm nicht ähnlich. Normalerweise war es andersherum: Je komplizierter die Werkzeuge waren, desto genauer kannte er sich damit aus. Das Meeting mit dem Projektteam war in einer halben Stunde, und dort hatte er den Hebel zeigen wollen. Jeder Tag der Verzögerung kostete das Unternehmen Millionen.

Gaye sah ihn mit großen braunen Augen aus ihrem runden Gesicht an, als er den Meeting-Raum betrat. Sie war seine neue Mitarbeiterin im Redstone-Projekt, die erste mit einem türkischen Namen, er mochte türkische Namen nicht, sie war gerade einmal zehn Tage da und er war genervt von ihr.

„Ich sage es ganz ehrlich“, versuchte Jon möglichst ruhig in die Präsentation einzusteigen, „Das Redstone-Erz macht Probleme. Es ist der ungünstigste Zeitpunkt, jetzt, wo der Auftraggeber über die Projektmittel entscheidet. Ich denke, die Server-Kapazitäten sind aufgebraucht.“

Anne und Mike starrten auf ihre Smart Devices. Sie hatten ihm gegenüber dargelegt, dass die Redstone-Werkzeuge in normalen, auch kleineren Server-Umgebungen hervorragend liefen. Selbstverständlich lag das Problem nicht an ihnen, sie gehörten zu den besten Programmierern der Welt.

Gaye hob die Hand.

„Du musst hier nicht die Hand heben, Gaye“, sagte Jon, „einfach raus damit“.

„Es kann an dem Loop liegen“, sagte Gaye, „da gab es eine Veröffentlichung im IT-Mag, die habe ich Euch heute geschickt. Der Loop geht in eine defekte Kommunikation mit dem Server, dadurch entstehen Interferenzen.“ Sein Schläfenmuskel fing an zu ziehen, das musste an ihrem Sprechtempo liegen. Das Thema Loop hatten sie vor ein paar Wochen angerissen, aber nicht weiterverfolgt. Anne und Mike sahen ihn an wie unschuldige Schafe. Ihm war unangenehm, dass die Neue ihn belehrte, aber Jon nickte kurz. „Okay, wir gehen dem nach. Danke, Gaye. Aber wir beide sollten gleich über Deine Aufgaben im Team sprechen. Dass Du im IT-Mag liest, ist gut, aber ich hatte Dir aufgetragen, die Excel-Tabellen auszufüllen.“

Er verließ den Meeting-Raum mit Kopfweh.

„Maithink X“, sprach Jon nach dem abendlichen Salat in seinen Chat Transformer. Er war hundemüde, aber mit den Schmerzen würde er wieder nicht schlafen können. Jon warf sich auf sein Bett, um die Projektion besser sehen zu können. Ein X entfaltete sich in der Luft vor seinen Augen. Es drehte sich und wurde zu der jungen asiatischen Frau, deren Vorname mit Mai anfing, den Rest konnte er sich nicht merken. Jon brauchte einfach etwas Unterhaltendes, das exotisch war. Mais Gesicht veränderte sich plötzlich, wurde kantig, ihr langes schwarzes Haar kurz, ihre Brüste verschwanden, ihre Arme wurden muskulös. Warum wechselte der Chat Transformer wieder so abrupt die Charaktere? Nichts schien zu laufen.

„Es gibt mich“, sagte der muskulöse Asiate nun, „auch wenn sie Euch einreden, dass es eine Lüge ist. Mein Körper ist in einem Glas repliziert, und deshalb gibt es immer mehr von mir, und wir überschwemmen Euch.“ Ein kalter Schauer lief Jon über den Rücken. Repliziert? Überschwemmen? „Ich arbeite, und ich bin so gut, dass ich Fehler in meine Arbeit einbauen mu -“ Der Clip brach ab, ein „Error“ erschien, und eine Millisekunde später winkte Mai im sexy Raumanzug auf dem Mond. Das war spooky. „Stop, Transformer, zurück, den Clip noch einmal zeigen“, sagte Jon. Mai winkte weiter. „Noch einmal, verflixt noch mal.“ Nichts zu machen.

Jon hatte von Arbeitsreplikanten gehört, hatte sie jedoch für Science Fiction gehalten. Nicht-Menschen, die ein Witzbold im Look der Gastarbeiter der 70er Jahre kreiert hatte, die unermüdlich arbeiteten, die am Ende ihn ersetzten, weil er sich als aufrechter Deutscher keine Fehler erlauben durfte, keinen einzigen Fehler. Es war keine Science Fiction, es war eine Verschwörung, gegen das deutsche Volk. Jon blinzelte, das Licht im Zimmer schien ihm immer heller zu werden, ihm ins Hirn zu stechen. Er nahm eine Ibuprofen Turbo, um schlafen zu können.

Nur ein Roboter arbeitete perfekt, Menschen konnten das nicht, schon gar nicht, wenn sie Kanaken nachempfunden waren. Der Satz, mit dem er sich beruhigen wollte, wurde in seinem Kopf zu einem tonnenschweren Monstrum. Wenn bei Zukunftscraft Arbeitsreplikanten eingesetzt wurden, musste Gaye eine sein. Am nächsten Morgen recherchierte Jon im Intranet der Firma. Er schaute sich Gayes Vita an, komisch war es, dass sie mit ihrem türkischen Namen über ein Studium in Computer Design verfügte, das hatte er von Anfang an gedacht.

Stevan konnte er nicht fragen. Der war ein Vorgesetzter, der sich für eine hervorragende Führungsperson hielt, weil er Menschen mit ausländischen Namen einstellte. Stevan war zudem zu wütend. Er hatte ihn ins Büro zitiert, weil der Projektpartner Mileon drohte, ihnen wichtige Mittel zu entziehen.

„Kannst Du mir bitte erklären, wieso ihr den Redstone-Hebel nicht in den Griff bekommen habt?“

Jon erklärte. Er hörte sich selbst reden. Wie er versuchte, darzulegen, dass das Team insgesamt eine gute Leistung vollbracht hatte. Dass Gaye zwar eine temperamentvolle Mitarbeiterin wäre, sich aber nicht an ihre Aufgaben hielt und dem Team Arbeit machte. Stevan wunderte es, schließlich habe Gaye einen Prädikatsabschluss. „Sie ist eine Migrantin“, wollte Jon sagen, aber er verkniff es sich. Auch, dass er sich weniger um Mileon als um Gayes Identität gekümmert hatte, verschwieg er.

„Im neuen IT-Mag war ein Artikel zu Redstone. Bist Du dem nachgegangen?“

„Woher weißt du das?“, wollte Jon fragen. Er schluckte den Satz herunter. Stevan war kein Fachmensch, er konnte den Artikel nicht selbst gefunden haben. Hatte Gaye ihn darüber informiert? Agierte sie am Ende auch noch hinter seinem Rücken? Anne und Mike interessierte nicht, ob das Projekt in Gefahr war, und das war ihm egal. Aber dass Gaye offenbar zu einem Gespräch bei Stevan vorgelassen worden war, ließ ihn vor Wut kochen. Stevan hatte sich eine Arbeitsreplikantin in Gestalt einer attraktiven Orientalin bauen lassen. Das sah ihm so ähnlich.

Jon ließ sich von Gaye den Loop-Artikel zumailen. Er traute seinen Augen nicht. Der Artikel war von einer „Gaye“ geschrieben. Jon spürte ein nebelhaftes dumpfes Klopfen in seiner Stirn. Nichts an dieser Gaye stimmte.

„Hast Du den Artikel geschrieben?“, fragte er sie im Team-Chat, seine Wut hinter einem lächelnden Emoji versteckend. „Ja“, antwortete sie, und schob ihrerseits ein lächelndes Emoji mit roten Wangen hinterher. „Ich hätte es sagen sollen, aber ich wollte Dich nicht verärgern“.

Jon ging noch mal in den Zentralrechner, dieses Mal wollte er den virtuellen Tresor der Personalabteilung knacken. Er wollte ihren wahren Geburtsort herausfinden, mit ihren Eltern sprechen, wenn die überhaupt Deutsch sprechen konnten.

Er kam in den Tresor, er kam in die E-Akte. Aber da war keine Geburtsurkunde hinterlegt. Sein Herz raste. Sie musste eine Replikantin sein, eine dreckige Arbeitsreplikanten, mit Genen aus dem tiefsten Osten. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

„Password invalid.“ Jon blinzelte in den Bildschirm des Arbeitsrechners. Es war vier Uhr morgens, so früh war selbst er noch nie im Büro gewesen. Er musste einen Zahlendreher in sein Passwort getippt haben. Fünf Mal wiederholte er die Buchstaben- und Zahlenfolge, checkte die Korrektheit. Der Rechner antwortete mit derselben Fehlermeldung. Beim sechsten Mal dann der Satz: „Ihr Account wurde gesperrt. Bitte wenden Sie sich an Ihren Vorgesetzten.“ Das verpasste ihm einen Schmerz, als schlug jemand einen Hammer gegen seine Schläfe.

Der dunkelhäutige Mann im weißen Kittel bat ihn, den Mund zu öffnen. Jon zögerte kurz, ließ sich dann doch die Flüssigkeit einflößen. „Ein Beruhigungsmittel“, sagte der Kittelträger, auf dessen Schild Jon ungläubig ein „Dr. med“ ausmachte. Jon sah sich um. Er war nicht der einzige Patient im Krankenbereich von Zukunftscraft. Neben ihm lag eine Frau mit geöffneten Augen bis zum Hals unter einem weißen Laken. Jon setzte sich im Bett auf. Die Frau hatte braune Haare und große braune Augen, die an die Decke starrten. War das Gaye? War sie tot? Der Arzt zog einen Vorhang zu. Jon wurde alles klar. Er hatte es gewusst.

Aber was hatte er gewusst? Er dachte nach, jeder Gedankengang schmerzte, aber er musste nachdenken. Es kam ihm nicht in den Sinn. „Ruhen Sie sich aus“, sagte der Kittelträger, „Sie haben zu viel gearbeitet. Ihr Entwickler nehmt Euch immer zu viel vor. Aber in ein paar Tagen geht es wieder.“ Dunkle Hände setzten eine Infusion. Ihm wurde warm. Er schlief ein.

Die Beine waren noch wie Pudding, aber die Freude war riesig, als er seinen ersten Arbeitstag nach zehn Krankentagen antreten konnte. Arbeit war sein Leben, und er war nicht abkömmlich im Team. Er öffnete die Tür zum Meeting-Raum. Da saß der Chef und lächelte ihn an. „Ah, Ali!“ , sagte Stevan mit einer Stimme, aus der jede Nuance ein Willkommen zu sprechen schien, „Das Kreativ-Team hat Dich sehnsüchtig erwartet!“ Sein Kopf war leicht und klar.

 

Didem Ozan, März 2023, Text für Sem;kolon, Textaufgabe: Spooky

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