Kapitalismus ist ein verschwundener Garten

Ich bin ein Kind, eine Schülerin aus Deutschland und sitze an einem türkischen Brunnen. Ich sehe den kleinen, weißgekalkten Bungalow in der staubigen Straße. Ich komme nicht im Traum auf die Idee, dass im nächsten Jahr dieses Häuschen und der Garten nicht mehr sein werden.
Für meine alte Großmutter, damals 53 Jahre alt, sind Verkauf und Abriss eine Chance, ihren Lebensabend in einer Wohnung mit Waschmaschine und sanitären Anlagen zu verbringen. Was Verkauf und Abriss 1986 für meinen Großvater sind, weiß ich nicht und werde ich nie erfahren. Dede spricht nie viel, bis er stirbt.

Ich blicke zu Dede hoch. Er soll reden, ich will wissen, was er denkt. Ich bin zu schüchtern um zu fragen. Er nimmt die Schiebermütze ab und macht seine Zigarette aus. Er geht in den Garten und gießt die Blumen. Trompetenblüten, Löwenmäuler, Nelken, einen Feigenbaum und hunderte anderer Blumen, auch Pflanzen, Bäume.

Dedes Wasservisiten sind gründlich. Er beginnt am Hauseingang, so dass ich mich vor den Spritzern in der Hängematte in Sicherheit bringe. Er schreitet den Garten sorgfältig ab, zeichnet Bögen mit dem Wasserstrahl, ganz große Kreise bis zu den Mauern, die Pflanzen wackeln vor Vergnügen, wenn das Wasser sie anstößt. Dann drückt er mit seinen nikotingelben Händen den Schlauch ein Stück zu, damit der Wasserstrahl stärker ist. Er zielt auf die krustige Erde in den Töpfen und Eimern zu seinen Füßen und lässt Brocken in meine Richtung fliegen und schmunzelt. Zum Abschluss spritzt er die klebrigen Früchte des Maulbeerbaums von seinen Plastiksohlen.

Bahçe ist der Garten meiner Familie. Für meine Anneanne ist er eine Last. Sie wäscht dort Dedes Hemden mit einem Waschbrett, das Waschmittel schäumt ihre Arme hoch. Wenn sie das Waschwasser in ihr türkisches Plumpsklo kippt, flucht sie.

Als sie mir sagt, dass das Haus im nächsten Sommer nicht mehr stehen wird, ist das Erste, was ich denke: dann ist das Klohäuschen dahinter bald auch nicht mehr. Denn ein Loch in der linken oberen Ecke des Türrahmens vor dem Häuschen ist die Behausung eines Lebewesens. Wenn aus dem Loch wimpernlange Beinchen hervorragen, bleibe ich unter der Tür stehen. Ich bleibe noch einen Meter weiter davon weg stehen, wenn ein Stück des runden, schwarz glänzenden Körpers hervorschaut. Für unvermeidliche Toilettengänge ist mein Ritual, dass ich die Tür öffne, Blick nach oben, die Beinchen sehe, unter dem Rahmen durch und fast in das Loch im Boden renne. Für meine Großeltern ist es nur eine harmlose Spinne.

Haus und Garten sind weg, als ich im nächsten Jahr wiederkomme. Weg auch die Spinne, die mir solche Angst machte. Ebenso wie alle anderen wunderbaren Wesen des Gartens. Ich male mir aus, wie sie die Pflanzen aus der Erde gerissen, die Löwenmäuler zertreten, den Maulbeerbaum gefällt haben. Jemand hat die Spinne aus dem Loch geholt, mit bloßen Fingern.

Im nächsten Sommer ist an derselben Stelle ein dreistöckiger Betonbau. Einem Immobilienhändler gehören alle Wohnungen bis auf die Wohnung meiner Anneanne. Sie hat dafür Waschmaschine und Klosett. Mein Dede ist bald nicht mehr da. Nach Abriss des Hauses wässert er nichts mehr, nicht einmal die Topfblumen.

© Didem Ozan

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