Montag, kurz nach eins. „Die wilde Rose“ hatte gerade angefangen. Mama duldete keinen Mucks, wenn ihre Lieblingsserie lief. Ich setzte mich ganz leise auf das Sofa und legte mein Heft auf den Wohnzimmertisch. Sie klappte es wieder zu. „Hier nicht, kommt Besuch gleich.“ Ich sollte in unser Kinderzimmer, aber ich hörte das Tupac-Gedudel von Deniz schon durch den Flur. „Er macht Musik aus, wenn Du Hausausgabe machst.“ Ich riss das Heft vom Tisch und sprang auf. „Das heißt HausauFgabe, Mama! Und der Vollidiot macht den Rekorder nicht aus!“
Mama warf mit der Bild der Frau nach mir. Sie nahm mir übel, wenn ich sie korrigierte. Aber warum? Ich sprach mit meinen dreizehn besser Deutsch als sie mit 43. Niemand außer mir hatte es in unserer Familie auf´s Gymnasium gebracht. Meine Mutter war Putzfrau, mein Vater Gelegenheitsarbeiter, mein Bruder hatte nicht einmal den Hauptschulabschluss. Er saß zuhause und hatte weder Ausbildung noch Job.
Das mit dem Gymnasium, das war die Idee von Onkel Ahmet gewesen. War mein Glückstag, als der bei meinen Eltern vorbeikam und fragte, wie es uns ginge. Die diskutierten an dem Tag ernsthaft, ob sie mich auf der Haupt- oder der Realschule anmelden sollten. Mama war für Hauptschule, Baba immerhin für Realschule. Onkel Ahmet sah mein Zeugnis und schüttelte den Kopf. Und lief mit mir die fünf Minuten zum Andreas Vesalius. Ich hätte ihn abknutschen können, als die Sekretärin mir die Anmeldung in die Hand drückte. Wenn er kein Mann im Alter meines Vaters gewesen wäre.
Meine Mutter prophezeite mir noch am selben Abend, dass ich das auf keinen Fall beenden würde, das „Gümnaßium“. Die Frauen in unserer Familie, sagte sie, aus denen würden Ehefrauen und Mütter. Mehr nicht. Mein Vater zeigte nur auf meinen Arsch und sagte, vom vielen Herumsitzen und Lernen würde der bestimmt noch platter. Dabei war in unserer Wohnung gar kein Platz zum Lernen. Es gab nur ein Kinderzimmer und das musste ich mir mit dem Vollidioten teilen.
Deniz lag immer auf seinem Bett, wenn ich ins Zimmer kam. Kaum saß ich im Schreibtischstuhl, drehte er lauter. Ich wollte aber Mathe machen! „Deniz, Mama hat gesagt, Du stellst das ab, ich kann bei dem Geleier nicht lernen!“. „Das ist Tupac, Mann, das solltest Du lernen, Streberin.“ Er stellte den Rap-Scheiß nicht ab. Ich haute auf die Stopptaste seines Ghettoblasters. Mit einem Mal sprang Deniz auf und riss mich an den Haaren vom Rekorder weg. Sofort stieß ich meine Faust in das Nashorn auf seinem Sweatshirt. Er brüllte und zog so fest an meinem Haar, dass jede Menge davon in seiner Hand hängen blieb.
Mama kam hereingehuscht und schüttelte den Kopf, als hätte sie uns bei was weiß ich für einem Geplänkel erwischt. In ihrer rechten Hand balancierte sie einen Teller, auf dem ein großes Stück braun-weiß gestreifte Torte stand. Schwarzwälder, das deutsche Essen, das bei uns auf den Tisch kam, wenn Besuch da war. Babas Lieblingstorte. Damit mein Arsch noch dicker würde? War gar nicht für mich. War für Deniz. Der Besuch war zahlreich, ich sollte lieber noch auf meine Portion warten.
„Ich will keine Torte, ich will Hausaufgaben machen“, sagte ich. „Ich brauche Deine Hilfe in der Küche“, antwortete sie und ging. Fütterungszeit war wichtiger. Deniz schlang die Sahne in exakt drei Sekunden hinunter. Dann drehte er den Ghettoblaster auf volle Lautstärke. Ich schrie nach Mama, aber sie kam nicht mehr zurück. Deniz sah mich an wie Kaiser Nero mit seinem herabgesenkten Daumen. Irgendwann rief Mama dann, ich sollte in die Küche kommen, ihr beim Teeservieren helfen.
Dienstag, kurz vor neun. Zweite Stunde. Mathe. Statt in die Fresse meines Bruders starrte ich ins gebildete Antlitz von Herrn Plitzka. Er heute im dunkelgrünen Wollpulli, war wohl gerade Schlussverkauf bei Tschibo. Sekunden nachdem er die Kreide in die Hand nahm, setzten sich weiße Schlieren auf seinem Pullover ab. Wenigstens passte das farblich zum zinnoberroten Bart, der sich in einer krakeligen Linie am Hinterkopf zum Haarflaum fortsetzte, dort, wo richtige Männer Haare hatten. Lehrer und gutes Aussehen – Fehlanzeige.
Ich durfte mich nicht beschweren, ich hatte meinen Part der Lehrer-Schülerin-Beziehung auch nicht erfüllt. Wann hätte ich die Hausaufgabe auch machen sollen? Als der Besuch weg war, musste ich die Spülmaschine ausräumen. Ich stellte mir vor, wie Lehrer Rotbart im Anzug aussehen würde. So was Legeres, aus Leinen, hell, Hemd vielleicht hellblau. Nein, das passte nicht zu dem Bart. Vielleicht beiger Cord, und darunter dann Dunkelgrün. Ja, er würde vom Hals aufwärts immer noch wie ein alter Knacker aussehen. Aber es wäre eine Verbesserung.
Der Tchibo-Pullover dankte Dorian, dem Schleimer. Der hatte die Reste der Deutschstunde von der Tafel gewischt. Das Dunkelgrün der Tafel zierten jetzt genau solche Streifen wie Plitzkas gleichfarbiges Strickoberteil. Jetzt passte wenigstens alles zusammen.
Plitzka sah mich an und grinste. Als er noch neu bei uns Mathelehrer war, hatte er mal so was gesagt wie „Ich hab es gewusst, Ipek, auf Dich ist Verlass.“ Seitdem grinste er immer, wenn ich meine Hausarbeiten an der Tafel zeigte. Baba und Mama freuten sich nie, wenn ich gut war in der Schule.
Rotbart kritzelte eine Formel an die Tafel und drehte sich zum Publikum. „So, wer möchte die erste Hausaufgabe lösen?“ Ich zog meine Bluse am Po etwas herunter. So im Reflex. Wenn ich nach vorne musste, würden alle sehen, wie ich von hinten aussah. Ich wollte nicht nach vorne gehen. Zum Glück hielt er nach einem Opfer in den hinteren Reihen Ausschau, dort, wo die Verweigerer saßen. Ulli, Thorsten, Peter. Das Bermudadreieck des Verstandes. Neben mir schnippte Dorian wie ein Bekloppter Mittelfinger und Daumen gegeneinander. Plitzka ließ seine Augen zu ihm schweifen. Hoffentlich Dorian. Bitte mach, dass er nicht Ipek sagt. Dann helfe ich Mama heute ungefragt, den Tisch abzuräumen.
„Ipek, Du hast diesmal doch sicher die Aufgaben gelöst.“ Er sah mir direkt in die Augen. Blut stieg in meine Wangen. Ich schlich nach vorne, meine Hand pickte an der Bluse wie ein hungriges Huhn an einem Kadaver. Ich sah angestrengt in mein Heft und zeichnete ein gleichschenkliges Dreieck an die Tafel.
„Ipek, schaust Du bitte, ob Du die richtige Aufgabe hast?“. Ich sah Plitzka über die Schulter an, drehte mich zu ihm. Ich spuckte es lieber schnell aus.
„Ich habe die Hausaufgabe nicht.“ Er blätterte in seinem Notizbuch.
„Das ist jetzt das dritte Mal hintereinander, Ipek. Du weißt, was das bedeutet.“
Eine Fünf und einen Brief an die Eltern. Mama würde sich jetzt freuen, so freuen. Ipek, bei uns ist niemand talentiert, so was würde sie dann sagen. Ein Leben zog an mir vorbei, von dem ich dachte, es wäre vielleicht meins. Ich in der Uni. In so nem großen Hörsaal. Vorne schreibt der Mathelehrer eine riesige Formel an die Tafel. Hatte ich beim Tag der offenen Tür gesehen.
„Was ist los, Ipek? Du hast doch viel mehr drauf als die ganzen deutschen Kollegen hier.“ Ich starrte auf die Kreide in meiner Hand. Ich fühlte Scham und Blicke im Rücken, die die Scham noch mehr anschubsten. Das Bermudadreieck fing an zu giggeln. Genau das war es, was er wollte, allen in der Klasse zeigen, dass ich doch keine fleißige, sondern eine faule Türkin war. Niemanden interessierte, wie es bei mir Zuhause lief. In den Pausen lästerten alle über die Kopftuchmuttis in der Innenstadt. Da saß Mama auch immer.
„Was geht Sie das eigentlich an, ob ich besser oder schlechter bin als die Ollis hier?“, fragte ich und wischte mir über das heiße Gesicht.
„Dann mache ich eben keine Hausaufgaben. Ist doch meine Entscheidung.“
Ich hüpfte zurück auf meinen Stuhl, verschränkte die Arme. Mann, ich fühlte mich gut. Keine Scham mehr, keine Wut. So richtig gut.
„Wir sprechen nach der Stunde miteinander, Ipek.“
Plitzka bat Dorian nach vorne. Der Streber bewegte sich wie ein Roboter. Ich nahm mir vor, ihm ein Bein zu stellen. Nach der Stunde drückte Herr Plitzka mir einen Zettel in die Hand.
„Am Freitag will ich hier Deine Mutter oder Deinen Vater sehen.“
Ich nahm den Brief und rannte aus der Klasse, zerriss das Papier und rieb es am feuerroten Backstein im Flur kaputt, rannte über den Schulhof und durch das Schultor, als müsste ich nie wieder zurück an diesen Ort.
Gelesen am 16.7.2019 auf dem Zeltfestival im Kulturquartier in Münster.
© Didem Ozan