Altes wegwerfen

Nach fünf Jahren in unserer ersten gemeinsamen Wohnung fand Georg, ich würde zu viel Papier sammeln. Ich sollte ausmisten, er wollte mir dabei helfen. Er hatte seinen Schreibtisch komplett von Papier befreit und fühlte sich besser. Aber ich fühlte mich schon hervorragend mit meinem Regal voller Kladden, Broschüren und Loseblattsammlungen. Ich hatte mich irgendwann für jedes Blatt entschieden, das da lag, ob horizontal oder vertikal, genau wie ich mich auch für ihn entschieden hatte. Georg fand den Vergleich lächerlich. „Altes wegwerfen“ war gut, sagte er, als hätte er das in irgendeinem Ratgeber gelesen.

Am Samstag nach dem Frühstück begannen wir. Also genau genommen Georg. Erst war er sorgfältig. Zog jedes fragliche Stück aus dem Regal und zeigte es mir. Dann wurde er ungeduldiger. Nach drei Stunden Kampf musste ich mich bereit erklären, wenigstens die Jahrgänge 2008 bis 2011 des Missy Magazins und der Spex zu entsorgen. Der Anblick des vollen Plastiksacks, in dem die Zeitschriften steckten, tat weh.

„Suzan, Süße, die liest du nicht mehr, genauso wenig wie deine Tagebücher und den alten Kalender da“, erklärte er mir mit etwas zu liebevoller Stimme. Machte er sich über mich lustig? Er griff den Beutel und zog ihn aus dem Schlafzimmer. Den „Müll“ wollte er sofort zur Tonne auf dem Hof bringen. Es konnte ja sein, dass ich schwach würde und ein Magazin wieder herauszog! Das Plastik quietschte auf dem Laminat, als würde das Papier nach Hilfe schreien. Mir war warm, ich drückte meine Schläfe gegen den Türrahmen. Ich sollte ausweichen, damit er zur Haustür gehen konnte. Ich bewegte mich nicht.

„Geh beiseite, Suzan.“ Er drückte mich sachte, aber herzlos von der Tür weg und zog den Sack an mir vorbei. Ich seufzte.

„Es ist unfassbar, Suzan, der Müllbeutel ist nicht einmal ganz voll. Ach, und was ist eigentlich mit dem Karton?“, fragte er. Als müsste ich wissen, welchen er meinte.

„Der Karton unter dem Bett, Suzan.“

Schnell hechtete ich auf den Boden und griff unter das Bett. Er war aber schon dort und zog den Schuhkarton heraus.

„Komm Suzan, wie lang lagerst du die ollen Briefe schon? Sind das Liebesbriefe?“

Meine Wangen wurden heiß.

„Was redest du? Die Briefe sind aus den Achtzigern, bestimmt dreißig Jahre alt.“

Weiter kam ich nicht, denn er versuchte, mit der Schachtel an mir vorbeizukommen. Das ließ ich nicht zu. Ich hüpfte so lange an ihm hoch, bis ich ihm meinen Besitz aus den Armen reißen konnte. Staub flog mir entgegen.

„Geht es noch? Das sind meine Briefe!“, schrie ich und drückte den Karton an mich. Mir war der Staub darauf egal, Hauptsache, der Inhalt landete nicht im Sack. Er prustete los.

„Dein Shirt. Pornobalken“, kicherte er. Auf meiner Brust hatte sich ein breiter grauer Staubstrich abgesetzt. Ich fand das nicht witzig. Ich lachte trotzdem.

„Du kannst doch nicht so sehr an diesen alten Sachen festhalten, Suzan! Ich habe letztens sogar mein Lieblingskartendeck weggeworfen.“

„Du kannst doch gammelige Spielkarten nicht mit dreißig Jahre alten Briefen vergleichen!“, erwiderte ich. Ich äffte ihn nach, ich war richtig sauer.

„Das sind Liebesbriefe. Sonst würdest Du die wegwerfen, Suzan.“

Ich zog einen der Umschläge heraus.

„Schau mal, der ist von Yeliz, einer Urlaubsfreundin, ach, was sage ich, eine Sandkastenfreundin.“

Auch das war nicht ganz richtig. Wir hatten schon als Vierjährige gespielt, nicht im Sandkasten, denn so etwas gab es an den Dardanellen nicht, schließlich lag der Strand einen Katzensprung entfernt. Wir hatten im Garten meiner Oma gespielt. Ich sah sie vor mir, wie sie da im Gras hockte, mit ihren kurzen braunen Haaren, immer ein keckes Grinsen unter der Sommersprossen-Nase. Jedes Jahr hatten wir geweint, als wir uns nach der Ferienzeit trennen mussten. Die Post aus der Türkei war ein Lichtblick im regnerischen Deutschland, wo einen die anderen Kinder nicht so umarmten wie Yeliz.

„Du willst also die Briefe einer Achtjährigen lesen. Glückwunsch, Suzan. Du bist wirklich kindisch.“ Jetzt wurde er fies. Die Art, wie er das „Wirk-lich“ betonte, Silbe für Silbe, ärgerte mich fast noch mehr als die Tatsache, dass er sich nicht für meine Kindheit interessierte.

„Wirk-lich, Wirk-lich!“ Ich knallte die Schlafzimmertür zu. Ich hörte das Schnaufen von Plastik, das in den Hausflur gezogen wurde. Statt sich um mich zu sorgen, warf der Herr meine Zeitschriften in den Müll! Tränen schossen mir in die Augen. Ich warf mich samt Karton auf das Bett. Dutzende Umschläge fielen auf die Bettwäsche. Ich vergrub meinen Kopf darin und roch das trockene Papier. Es duftete nach altem Holz. Die würde er mir nicht wegnehmen. Briefe, die Jahrzehnte geduldig gewartet hatten. Ja, genau jetzt würde ich die alle wieder lesen. Ich schloss die Tür ab.

Ich hockte mich auf unserem Doppelbett über den Briefberg und fischte den ein oder anderen Brief heraus. Ich nahm die Umschläge in die Hand, die Jahreszahlen der Briefstempel sprangen von 1985 bis 2005. Ich zog die Briefbögen aus den Umschlägen, öffnete sie Falte um Falte, legte die handgeschriebenen Buchstaben darin frei.

Und da waren sie. Diese besonders langen Briefen, die anders kuvertiert waren als die anderen. Sie hatten rot-blaue Ränder. „Uçak ile“, stand in einem blauen Stempel, „per Luftpost“. Diese Korrespondenz hatte Flugzeuge in meinem Bauch fliegen lassen. Ich war siebzehn Jahre alt, als der erste seiner Briefe kam. Das war 1992, der letzte Umschlag hatte 1996 die Türkei verlassen. Vor über zwanzig Jahren war das. Aber das waren keine Liebesbriefe.

Ich entzifferte seine Fragen wie Hieroglyphen. „Güzel Arkadasch“, begann er selbstbewusst seine Briefe an mich, „liebe Freundin“. Als kannte auch er mich schon von Kindesbeinen an. Wie es mir in Deutschland ging, wollte er wissen, wie ich in der Schule zurechtkam, was ich für Musik hörte. Mit den Jahren wurden seine Fragen intimer, so wie auch wir uns immer besser kennen lernten. Noch eine Freundschaft, die im Urlaub jedes Jahr intensiver wurde.

Irgendwann hatte er aufgehört zu schreiben. Ich las seinen letzten Brief, datiert von 1996, und hörte diese tiefe Stimme wieder im Ohr. Ich war verliebt gewesen, so ein Gefühl hatte ich vorher nicht gekannt. Meine Mutter hatte damals immer gesagt, das wäre „Aschk“, eine Schwärmerei. Ich sollte die ablegen, fand sie. Ich legte es ab, aber das Gefühl von damals, das spürte ich wieder, mit jeder Zeile, die ich las, breitete sich das Gefühl in mir aus, oder war es mehr die Erinnerung an das Gefühl?

Vielleicht war ich mehr in die Briefe verliebt gewesen als in ihn, dachte ich und strich über den blau-roten Zierrand. Aber das waren keine Liebesbriefe. Nirgendwo in den Zeilen las ich über seine Gefühle. Waren wir überhaupt ein Paar gewesen? Wir waren ein paar mal gemeinsam baden, ich fühlte das Wasser der Meerenge wie ein kühles Bett, ich ganz nah an seinem braungebrannten Körper, er hielt mich unter Wasser an meiner Taille fest. Seine Lippen auf meinen. Daher kam dieses Gefühl, genau das war der Moment, als ich es am stärksten gespürt hatte. Wasser tropfte auf das Papier.

„Du weinst doch jetzt nicht wegen der Briefe, oder? Suzan, geht es noch?“

Ich fühlte mich ertappt. Georg war ins Zimmer gekommen. Er sah mich mit hochgezogener Brust an. Setzte sich zu mir auf das Bett und wischte mit seinen kräftigen Daumen über meine Lider. Ich schloss die Augen. „Süße.“  Ich atmete tief ein, ich roch die Seife, mit der er seine Hände nach dem Gang auf den Hof gewaschen haben musste. Ich sollte die Briefe behalten, sagte er und küsste mich. Aber ich wollte nicht mehr.