Die Hausaufgabe

Montag, 13.32 Uhr, der Fernseher lief, California Clan hatte gerade angefangen. Ich sagte, ich würde Mathe machen. Setzte mich auf das Sofa und breitete mein Heft auf den aschgrauen Fliesen des Wohnzimmertisches aus. Mama klappte mein Heft zu. „Hier nicht, kommt Besuch“. Ich sollte in unser Kinderzimmer, aber ich hörte das Tupac-Gedudel von Deniz schon durch den Flur. „Er macht Rekorder aus, wenn Du Hausausgabe machst.“ Ich riss das Heft vom Tisch. „Das heißt HausauFgabe, Mama! Und der Vollidiot macht den Rekorder nicht aus!“

Dass ich mit 13 Jahren besser Deutsch sprach als meine 43-jährige Mutter, fiel mir damals schon auf. Gut, ich war auf dem Gymnasium und hatte damit den besten Bildungsstand in meiner Familie erreicht. Meine Mutter war Schneiderin, mein Vater Gelegenheitsarbeiter, mein Bruder hatte nicht einmal den Hauptschulabschluss geschafft. Er saß mit seinen siebzehn Jahren Zuhause und hatte weder Ausbildung noch Job. Das mit dem Gymnasium, das war die Idee von Onkel Ahmet gewesen. War mein Glückstag, als der zufällig bei meinen Eltern vorbeikam und fragte, wie es uns ginge. Meine Eltern diskutierten an dem Tag ernsthaft, ob sie mich auf der Haupt- oder der Realschule anmelden sollten. Mama war für Hauptschule, Baba immerhin für Realschule. Onkel Ahmet lächelte und nickte. Das heißt auf türkisch „Leck mich am Arsch“. Er brachte mich zum Andreas-Vesalius-Gymnasium. Ich hätte ihn abknutschen können, als die Sekretärin mir die Anmeldung in die Hand drückte. Wenn er kein Mann im Alter meines Vaters gewesen wäre.

Meine Mutter prophezeite mir noch am selben Abend, dass ich das auf keinen Fall schaffen würde, das „Gümnaßium“. Die Frauen in unserer Familie, sagte sie, aus denen würden gute Ehefrauen. Mehr nicht. Mein Vater zeigte nur auf meinen Arsch und sagte, vom vielen Herumsitzen und Lernen würde der bestimmt noch platter. Damit ich es wirklich nicht schaffte, hatten sie kürzlich vorgesorgt. In unserer neuen Wohnung in der Weseler Innenstadt gab es nur das eine Kinderzimmer. Das musste ich mir mit dem Vollidioten teilen.

Deniz lag wie immer auf seinem Bett. Wieder war er dicker geworden, und zwar nur, um mir die 25 Quadratmeter streitig zu machen! Kaum saß ich im Schreibtischstuhl, drehte er lauter. Tupac schmetterte mir „I don´t give a Fuck“ entgegen. Wut drückte sich in meine Kehle. Ich musste Mathe machen! „Bitte Deniz, ich kann bei dem Geleier nicht lernen“. „Das ist Tupac, Mann, Du lernst es echt nie, Streberin.“ Er stellte den Scheiß nicht ab. Ich haute auf die Stopptaste des Kassettenrekorders. Mit einem Mal war Deniz trotz seiner zwei Zentner Lebendgewicht blitzschnell. Er sprang auf und riss mich an den Haaren vom Rekorder weg. Sofort stieß ich meine Faust in sein Sweatshirt in 3XL. Mama musste was gehört haben. Sie kam hereingehuscht und schüttelte den Kopf, als hätte sie uns bei was weiß ich für einem Techtelmechtel erwischt. In ihrer rechten Hand balancierte sie einen Teller, auf dem etwas Goldgelb glänzte. Börek, damit mein Arsch immer dicker würde? War gar nicht für mich. War für Deniz.

„Mama, ich muss Hausaufgaben machen.“ Sie lächelte, nickte und ging. Fütterungszeit war wichtiger. Der Fettvaran schlang das Gebäck in exakt drei Sekunden hinunter. „Fettvaran“, kommentierte ich laut und wich nun seiner Hand aus. Er drehte den Rekorder auf volle Lautstärke. Ich schrie nach Mama, aber sie kam nicht zurück. Deniz sah mich an wie Kaiser Nero mit seinem herabgesenkten Daumen. Auf Hausaufgaben hatte ich keinen Bock mehr.

Dienstag, 8.01 Uhr. Erste Stunde Mathe. Statt in die dicke Fresse meines Bruders starrte ich ins gebildete Antlitz von Herrn Plitzka. Er heute im dunkelgrünen Wollpulli, war wohl gerade Schlussverkauf bei Tschibo. Musste ein alter Mann so stillos sein? Sekunden nachdem er die Kreide in die Hand nahm, setzten sich weiße Schlieren auf seinem Pullover ab. Wenigstens passte alles farblich zum rot-grauen Bart, der sich in einer krakeligen Linie am Hinterkopf zum Haarflaum fortsetzte, dort, wo richtige Männer Haare hatten. AVG-Lehrer und gutes Aussehen – Fehlanzeige.

Ich durfte mich nicht beschweren, ich hatte meinen Part der Lehrer-Schülerin-Beziehung auch nicht erfüllt. Wann hätte ich die Hausaufgabe auch machen sollen? Als Deniz schlafen ging, musste ich die Spülmaschine ausräumen. Ich stellte ich mir vor, wie Lehrer Barbarossa im Anzug aussehen würde. So was Legeres, aus Leinen, hell, Hemd vielleicht hellblau. Nein, das passte nicht zu dem kupferroten Bart. Vielleicht beiger Cord, und darunter dann Dunkelgrün. Ja, er würde vom Hals aufwärts immer noch wie ein alter Knacker aussehen. Aber es wäre eine Verbesserung.

Blitzschnell öffnete der Tchibo-Pullover die Schnalle seiner schmutzigen Ledertasche und zog einen zerfledderten Notizblock heraus. Er dankte Dorian, dem Schleimer. Der hatte die Reste der Deutschstunde von der Tafel gewischt. Das Dunkelgrün der Tafel zierten jetzt dieselben Streifen wie Plitzkas Strickoberteil. Jetzt passte wenigstens alles zusammen.

Als Plitzka in unserer Klasse anfing, hatte ich immer so ein Grinsen von ihm kassiert, wenn ich meine Hausarbeiten an der Tafel zeigte. Immer auf dieselbe Art, zu übersetzen als „Ich hab es doch gewusst, Ipek, auf Dich ist Verlass.“ Baba sagte so etwas nie zu mir. Mein Vater brauchte sich auf niemanden zu verlassen, denn er stand im Mittelpunkt seines Lebens. Als ich die Aufgaben nicht mehr machte, hörte Herr Plitzka endlich damit auf.

Rotbart schrieb eine Formel an die Tafel. Vielleicht war das gar nicht die Hausaufgabe? Manchmal mussten wir „spontan lösen“, wie er das nannte. Ich zog meine Bluse hinten am Po etwas herunter. Wenn ich nach vorne musste, würden alle sehen, wie ich von hinten aussah. Ich durfte auf keinen Fall nach vorne gehen.

Er beendete die Kritzeleien und drehte sich zum Publikum. „So, wer möchte die erste Hausaufgabe lösen?“ Alle wachten schlagartig auf. Ich drückte den Blusenstoff wie einen Schwamm zusammen. So fest, dass meine Faust zitterte. Barbarossa hielt nach einem Opfer in den hinteren Reihen Ausschau, dort, wo die Verweigerer saßen. Ulli, Thorsten, Peter. Das Bermudadreieck des Verstandes. Neben mir schnippte Dorian wie ein Bekloppter Mittelfinger und Daumen gegeneinander. Plitzka ließ seine Augen zu ihm schweifen. Hoffentlich Dorian. Allah, mach, dass er nicht Ipek sagt. Dann helfe ich Mama heute auch vor California Clan, den Tisch abzuräumen.

„Ipek, Du hast diesmal doch sicher die Aufgaben gelöst.“ Er sah mir direkt in die Augen. Blut stieg in meine Wangen. Ich schlich nach vorne, meine Hand pickte an der Bluse wie ein hungriges Huhn an einem Kadaver. Ich sah angestrengt auf die leere Seite in meinem Heft und zeichnete ein gleichschenkliges Dreieck an die Tafel.

„Ipek, schaust Du bitte, ob Du die richtige Aufgabe hast“. Ich sah Plitzka über die Schulter an, drehte mich zu ihm. Ich spuckte es lieber gleich aus.

„Ich habe die Hausaufgabe nicht.“ Er sah mich fragend an. Dann sah er unter seiner Brille hindurch in sein Notizbuch.

„Das ist jetzt das dritte Mal hintereinander, Ipek. Du weißt, was das bedeutet.“

Eine Fünf und einen Brief an die Eltern. Mama würde sich jetzt freuen, so freuen. Ipek, bei uns ist niemand talentiert, so was würde sie dann sagen. Ein Leben zog an mir vorbei, von dem ich dachte, es wäre vielleicht meines. Ich in der Uni. In so nem großen Hörsaal. Vorne schreibt der Mathelehrer eine riesige Formel an die Tafel. Hatte ich beim Tag der offenen Tür dort gesehen.

„Was ist los, Ipek? Du hast doch viel mehr drauf.“ Ich sah wieder auf die Tafel und fühlte Blicke im Rücken. Das Plitzkasche Gutmenschengerede setzte ein. Das Bermudadreieck fing als Erstes an zu giggeln. Die Klasse interessierte nicht, ob ich mehr drauf hatte. Oder wie es bei mir Zuhause war. In den Pausen lästerten die alle über die türkischen Kopftuchmuttis in der Innenstadt. Da saß Mama auch immer.

„Was geht Sie das an?“, fragte ich und wischte mir über das heiße Gesicht.

„Wir sprechen nach der Stunde miteinander, Ipek.“

Ich schlich zurück auf meinen Stuhl. Plitzka bat Dorian nach vorne. Der Streber rechnete wie eine Maschine.

Nach der Stunde drückte Herr Plitzka mir einen Zettel in die Hand.

„Am Dienstag will ich hier Deine Mutter oder Deinen Vater sehen. Diesmal müssen sie kommen.“

Ich rannte aus der Klasse, durch den backsteinroten Flur und über den Hinterhof nach Hause.

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