Ipek fühlte sich in Museen nie wirklich wohl. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, schwieg sie während des gesamten Rundgangs. Was nicht sonderlich auffiel, denn der Museumsführer sprach ohne Punkt und Komma. Bei der „ältesten Schere Deutschlands“, so nannte der Jean-Pütz-Verschnitt das besondere Highlight der Ausstellung, quasselte er ganze fünf Minuten. Der rheinische Opa beschwor theatralisch „die so ferne Zeit in unserer Region, sehr höchstwahrscheinlich das Erste Jahrhundert nach Christus, in der dieses Werkzeug geschmiedet worden sein muss“. Sein Museumssprech war fast musikalisch, doch er weckte bei keinem ihrer Mitschüler Interesse. Nur Ipek hörte genauer hin, weil es um das Schneiden ging.
„Das ist der besondere Stolz des Römermuseums“, fachsimpelte der Schlipsträger weiter, „uralte Bügelscheren. Die heißen so, weil sie aus einem Stück geschmiedet sind.“ Jean Pütz fuhr mit den Händen schwärmerisch entlang der Scheibe. Ipek stellte sich vor, wie er mit dem alten Schneidegerät seinen Schnurrbart stutzte. Ipek hob ihre Fersen in den Sneakern ein Stück, um das handgroße Modell genauer betrachten zu können. Es lag auf einem Seidenkissen in einer Einzelvitrine. Als wäre es die Krone der Queen.
„Schaut mal her, die Patina hier. Nein, das ist kein Rost! Diese Schicht bezeugt die vielen Jahrhunderte, die sie nach ihrer Fertigung bereits auf der Welt verweilt.“ Wie ein Verkäufer auf dem türkischen Basar, der den Touristen süße Worte hinterhersäuselt, damit sie endlich seine Ware kaufen. Lara gähnte. Thomas fragte, ob sie bald zu den Waffen kämen.
Auf der Rückfahrt saß Ipek im hinteren Drittel des Busses, nicht bei den Coolen, aber mit ausreichendem Abstand zu den Totalstrebern vorne. Lara setzte sich neben sie. Ohne zu fragen. Sie schien wacher als im Museum und quatschte über das, was in ihrer „Girl“ stand, und das Gequarke hörte die ganze Fahrt von Xanten nach Wesel nicht auf. Ipek hätte ihr am liebsten die Lippen abgeschnitten. Mit der alten, rostbraunen Schere aus dem Römermuseum. „Kes“, hörte sie ihre Mutter dazu zischen. „Kes“, sagte sie immer, wenn Ipek ihr zuviel redete, was soviel hieß wie „Schneid es ab“. Ipek schwieg und ließ Lara weiterquatschen.
Es war dunkel, als der Bus an der Brückstraße hielt. Ipek ging im Marschtempo heim. Die Mutter bekam Angst, wenn ihre Fünfzehnjährige lange weg blieb. Vor dem Waffenladen mit Namen „Waffen Schaaf“ blieb Ipek stehen. Im Schaufenster vor ihr blitzten zwei Reihen Scheren in allen Ausführungen, Größen und Stärken. Jetzt war das hier kein normales Geschäft mehr. Ipek war ganz kurz, als hätte jemand die alten Scheren aus dem Museum poliert und im Laden vor ihr neu ausgestellt.
Die Scherenmodelle blitzten in kaltem Silber. Sie hatten Scharniere. Aber da war immer noch diese typische Form, die der Museumsführer „genial“ genannt hatte. Zwei Griffe, die übergingen in Scherenblätter, die gegeneinander drückten, um Papier oder Stoffe zu zertrennen. Sie erinnerten Ipek an die Augen und den Schnabel einer Eule.
Wie die Schere ihrer Mutter. Die lag beim Arbeiten immer in der Mitte von Lineal, Maßband, Schneiderkreide und Rollschneider. Ohne das Schneidgerät lief nichts, erklärte ihr einmal die Änderungsschneiderin, die Schere brachte den Stoff in die richtige Form und ermöglichte das Nähen. Das war einer der wenigen Momente, wo Ipek dem Nähwerkzeug nah sein durfte.
Sie stellte sich die Kälte des Metalls vor. Wie gerne wollte sie einen schönen Stoff nehmen und ihn damit ganz exakt zerteilen. Aber Anfassen war auf dem Nähtisch tabu. Die Konsequenzen einer defekten Schere waren zu schmerzlich. Um dafür zu sorgen, dass niemand an das Wertvollste im Haus herankam, schloss die Mutter es jeden Abend in eine Schublade.
Es war bereits nach Ladenschluss, aber durch die Scheiben des Ladens erblickte Ipek die Eigentümerin. Sie bediente den letzten Kunden. Im Ladenlicht wellte sich das Haar der Verkäuferin steif wie das der Jagdgöttin am Eingang des Römermuseums. Wie erhaben Frau Schaaf mit dem Käufer umging, den ein Messer interessierte, wie sie das Produkt präsentierte, ihm erklärte. Als hätte sie etwas von unschätzbarem Wert in der Hand, das sie nur nach strengem Ritus übergab.
Sie hatte Frau Schaaf schon einmal so gesehen. Da hatte sie der Mutter ihre Schere nach dem Schleifen überreicht. Jetzt machte sie eine Bewegung, um Ipek hereinzubitten, auch eigenartig, fast altertümlich, wie eine Priesterin, die mit ihrer Hand Wasser in ein Becken schippte. Ipek öffnete die Glastür und schlich in den Laden.
„Worauf wartest Du draußen?“
Ipek fühlte sich voll erwischt.
„Du bist doch die Tochter von Hülya!“ Das warme Verkäuferinnen-Lächeln ließ sie wieder aufatmen.
„Frau Schaaf“, begann Ipek.
„Ich heiße Olfers. Das mit dem ´Schaaf´ ist ein Wortspiel.“
Ipek sah sie mit großen Augen an, vor Scham über ihre Dummheit brachte sie keinen Ton hervor.
„Unsere Waffen sind scharf, verstehst Du? Aber da kannste ja nichts für, nich. Deine Mutter sagt auch immer Frau Schaaf. Willst Du ihre Schere abholen?“
Ipek schüttelte den Kopf. Sie holte nie die Schere ab! Frau Olfers griff unter die Ladentheke und zog eine Schublade heraus. Und schon hielt sie ihr die „DOVO Solingen“ entgegen, den goldenen Griff voran. Sie musste doch wissen, wie eigen die Mutter mit ihrer Schere war. Die Tochter der Schneiderin hatte nichts damit zu schaffen. Warum sollte sie die jetzt annehmen?
„Ist ein relativ altes, aber sehr robustes Modell, nich“, erklärte Frau Olfers, als hätte sie eine Expertin vor sich. Ipeks Augen spiegelten sich im Metall der Klingen. Ihre Hand streckte sich, ihre Finger glitten in den Griff hinein, der sich sofort warm anfühlte. Sie spreizte die Finger, als hätte sie nie etwas anderes getan, schnell drückte sie die Griffe, so dass die Klingen sich berührten. Die waren jetzt nicht nur messerscharf, sondern auch geölt worden. Sie glänzten. Frau Olfers legte ihr einen Stoff hin. Ipek schnitt.